Donnerstag, 23. März 2023


 

Montag, 20. März 2023


 

Eine Rezension zur FDA-Anthologie "Wege und Wurzeln" von Dr. Sandra Kersten:

„Wege und Wurzeln“ (2022) – so der Titel einer weiteren Anthologie nach „Winter – Weihnacht – Wunderbares“ (2015) und „Die Ernte ist eingefahren“ (2011), die der Landesverband Sachsen des Freien Deutschen Autorenverbandes e.V. in den letzten Jahren herausgegeben hat.

Was darf der Leser von einem Thema erwarten, das auf den ersten Blick als antiquiert abgetan werden könnte? Oder trifft es gerade den Kern der aktuellen Geschehnisse? Inmitten von wirtschaftlicher Globalisierung und multikausaler, weltweiter Migration, die sowohl auf hoher politischer Ebene als auch im Kleinen die Diskussionen der Menschen bestimmen, begeben sich der Protagonist und das lyrisches Ich in den meist deutschsprachigen Texten auf Spurensuche. Sie fragen sich, wo sie zuhause sind, was dieses Zuhause ausmacht und gehen auf Reisen: in sich selbst, in das Land, in dem sie leben, oder in andere Länder. Einige kommen zur Erkenntnis, dass dieser Blickwinkel zu eingeschränkt und nicht mehr gerechtfertigt ist und ein Deutungsexperiment gewagt werden sollte.

Vielleicht steht der Anthologie gerade deshalb kein Vorwort Pate, sondern der lyrische Türöffner „Unentrinnbar“ von Hannelore Crostewitz. Das in seiner Mannigfaltigkeit kaum fassbare, da vielfach interpretierbare Konstrukt „Heimat“ wird versucht einzufangen, muss aber sogleich wieder freigegeben werden. Dies gilt auch für die Anordnung der Texte. Als Kategorisierung hielten nicht die Namen der Autoren her, sondern die Themen. Es begegnen „Nachdenkliches“, „Historisches“, „Biografisches“, „Geografisches“, „Fantastisches“ und „Sprachkünstlerisches“. Damit wird die Leserschaft zu einer weiteren Überlegung angestiftet, denn den Texten muss ihr thematisch ineinander fließender Charakter doch zugestanden werden. Zudem hält das Wechselspiel zwischen Kurzepik und Lyrik den Spannungsbogen aufrecht und die Herausforderung bereit, ebendieses zu deuten.

Für Brigitte Schubert sind „Mohdschegiebschen“ und für Lothar Pfüller „Dor Schatz unnern Bahm“ ein sprachlicher Indikator für Heimat, bei Iris Fritzsche ist es „der Schreibtisch, an dem meine Geschichten entstehen“. Friedemann Steiger geht weiter und zitiert Bobrowski: „Die Kontinente rücken zusammen […]“.  Ingo Neumann sieht „die blaue Erde“ und das Sternbild des Orion als Heimat an. Wilfried Rumpf bedient sich in „Meine rote Heimat“ mit dem Blick der Marsianer auf die Erde bereits des Phantastischen. In dieser Kategorie finden sich auch Jonas Muchas sprechende Bäume und Ligitta Nickels „Herbsttanz“ wieder.

Grit Kurths lyrisches Ich träumt von der einst schönen Heimat, jener in verklärter Erinnerung. Sie schlägt den Bogen zur nüchternen Realität und Marlis Michel konstatiert in „Vaterland und Mutterkreuz“: „Nein, eine romantisch umwobene Heimat erinnere ich nicht.“ Wilfried Rumpf fragt, ob der Begriff „überhaupt noch in unsere Zeit passt“, und Beate Seelinger öffnet die Grenze zum Paradoxon: „Vielleicht bin ich ja auch in der Heimatlosigkeit beheimatet“.

Wie gehen die Protagonisten damit um, wenn es „diese Heimat […] nicht mehr gibt“, das Land als geografisch-politische Einheit nicht mehr existiert. Welche Spuren bleiben, wenn sie aufgrund ihnen aufoktroyierter historisch-politischer Ereignisse zum Handeln getrieben werden. Im Kapitel „Historisches“ erzählen sie unter anderem ihr Schicksal während der Vertreibung und Flucht aus den Ostgebieten und der Herausforderung, „eine heimat in der fremde zu suchen“ (Andreas Knapp). Sie erinnern an die Bombenangriffe auf Dresden 1945, an Kriegszerstörungen und die unmittelbare Nachkriegszeit.

Hinzu treten Figuren, deren Handeln auf freien persönlichen Entscheidungen beruht: Sie besuchen Länder, etwa Polen oder Nicaragua, in denen sie ihre Wurzeln wissen. Meist liegt der Fokus auf den dort lebenden Menschen und ihr Wahrgenommen-werden-Wollen. (Katja Ullmann „Heimweh“, Reina Darsen „Betroffenheit“) Andere Protagonisten teilen ihre unstillbare Sehnsucht nach einem Land. Für Sina Blackwood ist es in „Il mio cuore batte italiano“ Italien, für Eveline Hoffmann in „Reif für die Insel” die Liebe zu Großbritannien. Andere fragen, ob sich Klischees über eine Region bewahrheiten, ob Sylt tatsächlich nur die Urlaubsinsel der Reichen und Schönen ist (Anne Meinecke). Kontrastierend dazu steht L. J. Cropleys „Daußen im Grünen“ mit einer Skizze des abgehängten Prekariats.

Wie zwei kleine Wölfe (Angelika Erdbeer) oder „Trolle, Zwerge und Räuber“ (Elwira Krupp) zum Thema passen und weshalb „Dresden – kurz vor Sibirien“ (Horst Seidel) liegt, obliegt der Leserschaft selbst zu erkunden.

Und: Nein, es ist nicht der berühmte Canaletto-Blick auf dem umlaufenden Cover. Doch es erinnert an den italienischen Maler, der das Reisen liebte. Die sächsische Landeshauptstadt Dresden, mithin die Frauenkirche, stehen als Symbol des Mutes der Menschen zum Aufbruch nach Niedergang und Zerstörung und Repressalien. Es ist ein Ort, an dem Politik, Kultur, Arbeit, Familie und Freunde verbunden sind. Die Elbe deutet auf Bewegung, auf den Weg als das Zuhause.

 

Dr. Sandra Kersten

 

Mittwoch, 15. März 2023

 
Demnächst im Handel.