Samstag, 25. Oktober 2014

AJA in Dresden

AJA mit Horst Seidel am 25.10.14 in Dresden

Da wo ich bin ist das Chaos. Na, Gott sei Dank kann ich nicht überall sein. Der Spaß ging schon auf dem Bahnsteig in Chemnitz los. Ich fotografierte eine putzige Maus, die geschäftig durch das Gleisbett wuselte, als ich von der Seite zugetextet wurde.
„Naaaaaa, zeigt das Handy endlich die Verspätung an?“
Ich darauf: „Wozu? Die läuft seit einer Viertelstunde als Text über die Zuganzeige hier auf dem Bahnsteig und seit etwa 20 Minuten sogar schon in der Halle.“
Ungläubiges Staunen bei meinem Gegenüber.
Wer lesen kann ist eben eindeutig im Vorteil … Das rettet mich aber nicht vor einem Small Talk, den ich als wohlerzogener Mensch nun führen musste, obwohl ich innerlich die Augen verdrehte.
Irgendwie schaffte ich es dann, in ein anderes Abteil einzusteigen als der nervige Frager.
Hier telefonierte ein Herr gleich neben der Tür nur ziemlich laut. Aber in der Hoffnung, dass er irgendwann damit fertig würde, blieb ich sitzen, obwohl es mich nach ein paar Minuten ernsthaft zu stören begann. Ich wollte eigentlich Tschechisch lernen und legte irgendwann frustriert das Buch zur Seite. Hinter Niederwiesa quasselte der Fahrgast noch immer munter mit zwei Freunden am Handy, wie ich da noch glaubte. In Flöha hatte ich die Nase voll. Vorsichtig äugte ich durch die Scheibe nach dem Fremden, wobei ich mir noch halb das Genick verrenkte. Meine Augen wurden immer größer und schließlich stand ich sogar auf, um wirklich klar sehen zu können.
Der Typ hatte gar kein Handy! Weder am Ohr noch vor sich auf dem Tisch! Der quatschte wie ein Wasserfall mit zwei imaginären Personen, die eindeutig nur in seiner Fantasie existierten. Sie müssen aber geantwortet haben, denn es erfolgten ziemlich logische Themenwechsel. Ihr ahnt schon, dass ich zuerst völlig perplex und dann zunehmend amüsiert lauschte.
Er schwadronierte mit dem Einen über Ebola, erklärte dem Anderen, wie man am besten nach Mallorca fliegt,um dem Ersten gleich darauf zu erklären, dass bei dem gerade herrschenden Nebel eine Bergwanderung zu gefährlich sei und man diese auf den Sommer verschieben müsse.
Wow!
Ich kann die Fahrt keinesfalls als langweilig bezeichnen. Vor dem Fenster zartrosa leuchtende Wolkenformationen, im ersten Licht wie Silberfünkchen blitzende Flugzeuge, Reifkristalle auf den Wiesen, buntes Herbstlaub und Nebel in den Senken. Drinnen ein Herr, der dies ebenfalls wahrnahm und seinen Freunden in schnellem Plauderton davon berichtete.
Doppel Wow!
In Dresden erwartete mich meine Schwester schon am Zug, dirigierte mich in ihr Lieblingsrestaurant, wo wir gemütlich Cappuccino tranken und angeregt schnatterten. Dann suchten wir das World Trade Center heim, scherzten mit einer Verkäuferin, die garantiert noch Minuten später in sich hinein grinste.
Schließlich übergab Karin ihr kleines Schwesterchen in die liebevolle Obhut von Iris Fritzsche, die auch schon vor Ort auf Gesellschaft lauerte. :-)
Nach und nach trafen auch noch Anne Meinecke, Katja Ullmann, Carlos Ampié Loría, Almut und Rolf Fehrmann und natürlich Horst Seidel ein.
Wir enterten die Bibliothek, angesichts des stilisierten Schiffsbugs dort an der Wand kann man es durchaus so nennen, und beschäftigten uns mit der „Assoziation des Titels“.
Horst erklärte dies am Beispiel der Erzählung „Die Heilige Katharina“ von Stefan Heym.
Danach sezierten wir Almuts Erzählbericht „Die Natur braucht keine Pflege“ aus dem letzten „Sachsenbrief“.
Viele Fragen, die viele neue Fragen aufwarfen und bei sechs Personen sechs völlig unterschiedliche Assoziationen hervorriefen, was auch nicht alle Tage vorkommt.
Fazit: Ein äußerst interessanter Text, der sich noch abschließend in alle möglichen Richtungen weiterentwickeln kann.
Anne hatte die neueste Version ihrer „Anti-Weihnachtgeschichte“ dabei, wie sie sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge nennt. Angenehme Überraschung bei allen. Der Text ist nun stimmig, flüssig und es kommt eine wirkliche Weihnachtsstimmung auf, die Anne nun in genau der richtigen Weise beschreibt, ohne das Grundanliegen aus dem Auge zu verlieren.
Katjas Geschichte aus einem nikaraguanischen Tryptichon sprühte vor ergreifenden Bildern, die trotz aller Trauer über eine grauenhafte Vergangenheit, einen Ausblick auf eine gute Zukunft zuließen. Die Magie der Sprache, verwoben mit der Magie der Figuren – genau das, was südamerikanische Poesie ausmacht.
Auch die Worte von Carlos über die Macht dessen, was während des Schreibens noch auf den Schriftsteller einstürzt und ihn bewusst oder unbewusst beeinflusst, werden uns im Gedächtnis bleiben. Denn sie erfüllen genau jenen Tatbestand.
Am Anfang begrüßte uns Horst als „literarische Selbsthilfegruppe“, die, so glaube ich, für diesem Tag ihr Ziel bestmöglich erreicht hat.

Mit fliegenden Rockschößen eilte ich zur Straßenbahn, erreichte sogar so pünktlich den Bahnhof, um noch einmal „um die Ecke“ verschwinden zu können. Dann fuhr auch schon der Zug ein. Und wieder klammerte sich jemand mit einem Gespräch an mich. Nur war es diesmal recht angenehm, worauf sogar eine meiner Visitenkarten den Besitzer wechselte. Fast pünktlich erreichte ich Chemnitz und tigerte zu Fuß nach Hause. Da hielt plötzlich ein Audi mit Frankfurter (a.M.) Kennzeichen neben mir - meine Tochter mit Mann, die mich buchstäblich aufsammelten und heim chauffierten.
Für mich ein rundum gelungener Tag vom Aufstehen bis zum Schlafengehen.

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